Cover
Title
1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart


Author(s)
Sarasin, Philipp
Published
Berlin 2021: Suhrkamp Verlag
Extent
505 S.
Price
€ 32,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Heiko Stoff, Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Seit Ende der 1990er-Jahre häuft sich auf bemerkenswerte Weise das Erscheinen sogenannter Jahresbücher. Zuerst genannt werden muss sicherlich Hans Ulrich Gumbrechts „In 1926“.1 Die chronologische Kontingenz erschien Gumbrecht als Herausforderung, das Jahr 1926 in seiner historischen Gleichzeitigkeit darzustellen und die Illusion einer „direkten Vergangenheitserfahrung“ zu generieren. Das kommerziell erfolgreichste Jahresbuch wurde jedoch von einem journalistisch geschulten Sachbuchautor geschrieben: Florian Illies’ „1913“, als Jubiläumsband gut platziert und mit literarischer Montage als ein Panorama der europäischen Moderne vor der Katastrophe des Jahres 1914 gestaltet, reüssierte seit Ende 2012 zu einem Bestseller.2

Jede Wahl eines Jahres, das von kanonisierten Umbruchjahren abweicht, verweist zugleich auch auf eine Neuinterpretation der Geschichte selbst. Dazu sind in den letzten Jahren unter anderem mit Simon Halls „1956“, Jon Savages „1966“, Robert Stockhammers „1967“, Frank Böschs „1979“ und Georg Schilds „1983“ mehrere Monografien erschienen.3 Da es sich bei all diesen Autoren um Männer handelt, darf auch darüber spekuliert werden, ob die Lust, den Verlauf der Weltgeschichte eigenhändig neu zu schreiben, als ein Antrieb zum Verfassen dieser Jahresbücher angesehen werden kann. Jahresbücher können also einerseits, inspiriert und zugleich begrenzt durch das Material von Jahreschroniken, genutzt werden, um ein willkürlich gewähltes Jahr zu (re-)konstruieren und dabei etwas zu finden, was nicht gesucht wurde. Andererseits dienen sie dazu, ein Schlüsseljahr zu bestätigen oder ein neues zu inthronisieren. Alle diese Jahresbücher verweisen dabei auf jene letzte Schwelle, die zur Gegenwart führt. Bösch und Illies behaupten, deren Ursprung jeweils in den Jahren 1979 und 1913 aufgefunden zu haben. Die Literatur- und Medienwissenschaftler Stefan Andriopoulos und Bernhard J. Dotzler wiederum verorten die Ursprünge der medialen Gegenwart im Jahr 1929.4

Der Züricher Historiker Philipp Sarasin schließt hier mit seinem Buch „1977“ an. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, denn der Untertitel des Buches – „Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ – verrät bereits, dass 1977 unsere Gegenwart ist. Die Zeit dazwischen muss gar nicht durch Ereignisse gefüllt werden, denn alles Heutige ist in „1977“ präsent. Es gehe ihm darum, schreibt Sarasin einleitend, „einige Phänomene und Probleme zu identifizieren, die uns heute ganz offenkundig beschäftigen“ (S. 34). Diese „offenkundige“ Gegenwart soll im Jahr 1977 kenntlich gemacht werden, und dementsprechend verwendet Sarasin explizit keine Dokumente aus den Jahrzehnten nach den 1970ern.

Dass diese Perspektive methodisch problematisch ist, hat schon Michel Foucault konstatiert, auf den sich Sarasin natürlich bezieht. Foucault betonte in „Überwachen und Strafen“, dass er nicht vorhabe, die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen. Wohl aber sei es seine Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben.5 In der Wissenschaftsgeschichte wird wiederum die Historizität aktueller Begriffe, Diskurse und Dinge mit Bruno Latour als „rückwärtsgerichtete Verursachung“ und „Retroproduktion von Geschichte“ verhandelt. Umso mehr gilt dies für geschichtswissenschaftliche Konstruktionen von historischen Zäsuren. Thomas Thiemeyer bezieht sich in einem Essay zu den Jahresbüchern in diesem Sinn auf Hans Blumenbergs Feststellung, dass eine nur ex post festlegbare Epochenwende an kein prägnantes Datum oder Ereignis evident gebunden sei.6 Sarasins „1977“, das auf dem aktuellen Stand der zeithistorischen Forschung zu den transatlantischen Gesellschaften während des Kalten Krieges ist, muss also auch daran gemessen werden, wie diese Gegenwart auf neue Begriffe gebracht wird.

Dass die zweite Hälfte der 1970er-Jahre eine Umbruchzeit darstellt, ist unter anderem von dem Soziologen Andreas Reckwitz postuliert worden.7 Sarasin, der Reckwitz als Referenz anführt, formuliert dazu in seiner Einleitung zwei Hauptthesen: Erstens habe es 1977 eine diskursive Verschiebung vom (modernen) Allgemeinen zum (post- oder spätmodernen) Singulären und Individuellen gegeben; zweitens lasse sich dies anhand von fünf Motiven zeigen – Revolution, Recht, Sex, Medien und Markt.

Der Geschichtswissenschaftler Sarasin, dem die Bedeutung langdauernder Prozesse und dynamischer Gefüge vertraut ist, spricht jedoch selbst vorsichtig und im gewissen Widerspruch zur Idee des Jahresbuches von „Haarrissen“ und „Bruchlinien“ (S. 419) – Metaphern, die eher auf ein langsames Erodieren als auf einen plötzlichen Zusammenbruch moderner Diskurse und Praktiken verweisen, wie er durch den Chronotopos der „Schwelle“ ausgedrückt wird.

Jedes einzelne der den fünf Motiven zugeordneten Kapitel des Buches beginnt mit dem Nekrolog einer im Jahr 1977 gestorbenen Persönlichkeit. Dass diesem Verfahren etwas Willkürliches zukommt, dürfte evident sein. Sarasin verwendet die fünf Nekrologe dann auch vor allem, um das Davor des Allgemeinen und das Danach der Singularitäten erzählbar zu machen. Auf unvermeidlich additive Weise subsumiert der Autor in den Kapiteln Ereignisse, die er als „kleine Geschichten der Moderne“ bezeichnet (S. 33). So folgt dem Fanal von Ernst Blochs Tod als Abgesang auf Universalutopien eine Individualisierung radikaler Politik. Das Ableben der US-amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Fannie Lou Hamer markiert den Beginn der politischen Wirkmacht des Konzepts der universellen Menschenrechte, das als eine Kritik an repressiven Regimes jeglicher Art funktionierte, aber auch ein politisches Werkzeug darstellte. Die Positionen des Opfers, der Einzelnen und der Außenseiter, so Sarasin, seien erst in diesem Zusammenhang bedeutsam geworden. Während Anaïs Nins Suche nach der eigenen sexuellen Körperlichkeit noch als Avantgarde der Moderne erscheint, wurde dies in den 1970er-Jahren zu einer „postmodernen Praxis vieler“ (S. 171). Der Innerlichkeit und Authentizität kam eine wachsende Bedeutung zu, die literarisch zur Neuen Subjektivität und politisch zur Identitätspolitik führte, die auf fundamental unterschiedliche Weise in linken und rechten Diskursen ausformuliert wurde. Weitere Spuren führen zum „Psychoboom“ der späten 1970er-Jahre, aber ebenso zur radikalrelativistischen Wissenschaftstheorie eines Paul Feyerabend.

Der Tod von Jacques Prévert, dem Miterfinder der écriture automatique, verweist auf jene Kulturtechniken, die sich Ende der 1970er-Jahre mit dem Computer durchsetzten. Qua Programmiersprachen verwandelte sich eine Großmaschine zur Datenverarbeitung in tendenziell vernetzbare Heimcomputer. Die soziobiologischen Denkfiguren, die auch der ordoliberalen Wirtschaftspolitik des 1977 verstorbenen Ludwig Erhard innewohnten, wurden seit den 1970er-Jahren im angloamerikanischen Zusammenhang radikalisiert. In den Theorien eines ebenso selbstregulierten wie naturalisierten Marktes wurde der Schutz der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit als höchstes Gut postuliert. Eigenschaften des Egoismus und Techniken der Selbstformung wurden obligatorisch. In diesem neoliberalen Klima gediehen Figuren prächtig, die aus der Gegenwart bestens vertraut sind. So widmet Sarasin dann auch einen Exkurs dem „Spieler“ Donald J. Trump (S. 369–372).

Die „kleinen Geschichten“, in denen die Singularisierung monadisch aufgehoben ist, sind mal routiniert erzählt, wie etwa die Abschnitte zu Roter Armee Fraktion und Punk, aber auch originell und erhellend, wie vor allem die Ausführungen zum „epistemologischen Individualismus“ esoterischer Denkweisen (S. 193, mit Verweis auf den Religionssoziologen Roy Wallis). Das Buch strotzt von kenntnisreichen Detailstudien zu höchst unterschiedlichen Themenbereichen. Sarasin entdeckt dabei vielfach überraschende Zusammenhänge – ob der Materialfülle ist jedoch nicht immer nachvollziehbar, wie das einem Motiv zugewiesene Gleichzeitige sich konstituiert (warum etwa die postmoderne Architektur auf die elektronische Tanzmusik folgt). Sarasin verwendet dafür einen Ordnungsfaktor, der sich als ebenso nützlich wie methodisch heikel erweist. Entgegen den Beteuerungen des Schweizer Foucault-Kenners handelt „1977“ doch zentral von Michel Foucault, der im Buch nicht nur als symptomatischer Zeitgenosse weitaus mehr als „ab und zu auftaucht“ (S. 33f.). Diese Privilegierung ist nicht unbegründet, doch verbindet sich Foucaults Zeitzeugenschaft mit dessen methodisch-theoretischem Instrumentarium, auf das sich Sarasin mit Tropen wie die „Regierten“, die „infamen Menschen“ und die „Selbsttechniken“ stützt. Das Jahr 1977 ist das Jahr Foucaults, so lässt sich dies interpretieren, und so aktualisiert sich auch in der Gegenwart Foucaultsches Denken, mit dem wiederum „1977“ rekursiv verstanden werden kann. Da 1977 und die Gegenwart auf diese Weise teleologisch verbunden sind, erscheint das Schicksal der Spätmoderne alternativlos. Gleichwohl macht ja das moderne Allgemeine, das in „1977“ zu Grabe getragen wird, nicht nur geisterhaft weiter. Und mit durchaus guten Begründungen haben andere Autoren alle individualisierenden Motive der Gegenwart ebenso überzeugend in den 1920er-Jahren aufgefunden.

Deshalb stellt sich die Frage, warum diese Geschichte der Singularisierung anhand eines einzelnen Jahres erzählt werden muss. Seit Illies’ Bestseller haben sich Jahresbücher als ein Lieblingsgenre des Feuilletons etabliert. Entsprechend folgten die Rezensionen zu „1977“ in rascher Folge. In die Zufriedenheit über ein unterhaltsames und kluges Jahresbuch mischte sich aber auch eine gewisse Reserviertheit. Denn Sarasins Stil ist keineswegs das, was von Jahresbüchern erwartet wird. Während die Lektüre von „1977“ ob des Detailwissens und der analytischen Schärfe nach konzentrierter Lektüre verlangt, war es bei Illies gerade das Anekdotische, das zum Markenzeichen solcher Bücher erklärt wurde. Entsprechend schwankt „1977“ zwischen den Anforderungen an ein feuilletongerechtes Produkt für den Buchmarkt und den geschichtswissenschaftlichen sowie politischen Ansprüchen des Autors. Letztere hat sich Sarasin allerdings weitgehend für den Schlussteil aufbewahrt, wo er als warnendes Fazit formuliert, dass der „Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion“ durch die Singularisierung zum Preis habe, dass kritisches Denken nicht länger an die Verbindlichkeiten des Allgemeinen gebunden sei (S. 426).

„1977“ ist ein lesenswertes und lehrreiches Jahresbuch. Mit Hilfe von Reckwitz’ These der Singularisierung und Foucaults Werkzeugkiste hat Philipp Sarasin dieses ereignisreiche Jahr sortiert und auf die Gegenwart bezogen. Es gibt im deutschsprachigen Raum zudem nicht viele Autor:innen, die in der Lage sind, so unterschiedliche Themen wie Disco und neoliberale Wirtschaftstheorien ähnlich eloquent darzustellen. Jedoch forciert Sarasins methodischer Zirkelschluss, der die „offenkundige Gegenwart“ unzweifelhaft ins Jahr 1977 versetzt, ebenso eine Fatalität der historischen Entwicklung, wie er auch ein komplexes historisches Gefüge notwendigerweise auf das verkürzt, was in die Chronik eines Jahres hineinpasst.

Anmerkungen:
1 Hans Ulrich Gumbrecht, In 1926. Living on the Edge of Time, Cambridge, Mass. 1997 (dt.: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2001).
2 Florian Illies, 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2012, 19. Aufl. 2017, zahlreiche Übersetzungen.
3 Simon Hall, 1956. The World in Revolt, London 2016 (dt.: 1956. Welt im Aufstand. Aus dem Englischen von Susanne Held, Stuttgart 2016); Jon Savage, 1966. The Year the Decade Exploded, London 2015; Robert Stockhammer, 1967. Pop, Grammatologie und Politik, Paderborn 2017; Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019; Georg Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn 2013. Weitere einschlägige Titel finden sich (unvollständig) unter https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Sachb%C3%BCchern_%C3%BCber_Jahre (15.10.2021).
4 Stefan Andriopoulos / Bernhard J. Dotzler (Hrsg.), 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt am Main 2002.
5 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1976, S. 43.
6 Thomas Thiemeyer, Jahre am Rande der Zeit, in: Merkur 68 (2014), S. 256–260, hier S. 257; Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 206f.; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1996, S. 545.
7 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.